Quadranten der Gesangspädagogik

Wer kennt das nicht?: Zwei Sänger oder Lehrer reden über das Singen und du bekommst das Gefühl, sie reden aneinander vorbei!
Dieser Blog ist durch hunderten solcher Erfahrungen entstanden. Es dauerte tatsächlich lange bevor ich begriffen habe, WAS GENAU PASSIERT, wenn zwei Menschen über das Gleiche reden, eigentlich einer Meinung sind und doch so erscheinen, als würden sie eine Meinungsverschiedenheit haben. Wenn dies in einer Gesangsstunde passiert, entstehen Missverständnisse, die mitunter Jahre andauern können. Solche blockierte Kommunikation raubt Energie und Freude am Lernen. Ich möchte hier ein Modell vorstellen, das für mich Hilfe bei solchen Konversationen bietet.
Sänger sowie auch Gesangslehrer sind so gedrahtet oder erzogen, dass sie bestimmte Wahrnehmungsfilter benutzen, um gesangstechnische Phänomene zu kodieren und zu beschreiben. Diese Filter haben verschiedene Formen bzw. Charakteristika. Dieses Modell macht durch eine klassische Viererteilung solche Charakteristika deutlicher. Ich nenne dieses Modell „Die Quadranten der Pädagogik“. Erfahrene Leser werden die Struktur dieses Modells sofort erkennen. Ob man die alte Elementenlehre, Jungs Bewusstseinsfunktionen, Wilbers integrale Theorien, von Thuns Kommunikationsmodell und Ähnliches nimmt, solche Modelle haben immer dazu gedient, unsere Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten deutlich zu machen und das Verständnis für unsere Wahrnehmungen und Wahrnehmungsfilter zu fördern.
Gesangsstudenten, besonders die Hochbegabten und Frühreifen, haben alle eine sehr spezifische Sicht auf ihre Kunst. Für uns als Lehrer ist es wichtig, diese Sicht zuerst zu erkennen und dann unterstützend zu leiten. Wenn das nicht passiert, entsteht unnötige Verwirrung. Ein Beispiel: ein sehr kognitiv ausgerichteter, links hirnhälftiger, logisch orientierter Bariton fühlt mit seinem Finger in sein Schlüsselbein hinein und spürt beim tiefen Ton ein Ziehen. Er fragt seine sehr visuell, sensorisch fokussierte Lehrerin was dabei passiert und sie antwortet: „hör auf mit deinem Körper zu spielen. Du tust dir weh. Kümmere dich nicht um deine Anatomie, sing einfach.“ Ein zweites Beispiel: eine junge, energetische, lyrische Sopranistin fragt ihren anatomisch fokussierten, funktionalen Lehrer, ob sie die Silberkordel, die sie in ihrer Stirn bei hohen Tönen deutlich sieht und spürt nach oben in ihren Scheitel führen soll, zur Stirn oder mehr zur Oberlippe. Der Lehrer antwortet, mit einem milden, priesterlich geduldigen Lächeln: „keine Ahnung was du mit Silberkordel meinst. Senk deinen Kehlkopf, runde die oberen Konstriktoren und lass den Atlas-Axis Bereich 3° mehr nach hinten kippen.“ Diese Antworten klingen vielleicht übertrieben. Solche und ähnliche Äußerungen habe ich aber zu Hauf als Sänger und als Stimmpädagoge gehört! Es ist auch irgendwie verständlich. Wir bleiben bei dem, was uns bekannt ist, besonders dann, wenn es über Jahre Erfolg gebracht hat. Nur, der Clou ist, wir Menschen sind verschieden. Und weil wir verschieden sind, brauchen wir als Lehrer, diese Verschiedenheit spezifisch zu verstehen und zu integrieren.
In diesem Sinne präsentiere ich mein Modell. Es ist nur ein Modell. Es ist nicht in Stein gemeißelt und vom Sinai heruntergetragen. Es evolviert, wie alle brauchbaren Modelle. Es hat mir gute Dienste geleistet, mit mir selbst, mit Sängern verschiedener Stile, mit Lehrerkollegen und mit Pädagogikstudenten. Vor allem, es dient, zu zeigen, aus welchem „Stoff“ Sie als Sänger und Pädagoge gemacht sind. Was sind Ihre Vorlieben und wo fühlen Sie sich unbequem? „Unbequem“ ist oft ein hervorragendes Zeichen für technische Intoleranz, bzw. Beschränktheit in einem oder mehreren dieser Quadranten. Falls das so ist: Sie müssen sich nicht ändern! Es gibt sehr viele richtig beschränkte Gesangspädagogen mit sehr guten Erfolgen. Wenn man sie fragt, ist es gerade diese Beschränktheit, die sie zu Erfolgen geführt hat! Falls Sie aber tolerant für andere Ideen sind oder gerne werden wollen, bzw. Schwierigkeiten bei der Kommunikation mit einem oder mehreren Gesangsstudenten haben, ist dieses Modell, wie ich finde, ein guter Anfang. Machen Sie ihre eigenen Erfahrungen. Modifizieren Sie es nach Belieben. Falls Sie möchten, schicken Sie mir gerne Ihre Erfahrungen, Modifizierungen und Ergänzungen. Meinen E-mail-, bzw. Internetlink finden Sie am Ende des Artikels.
Dieses Modell teilt die Erfahrungsmöglichkeiten und Beschreibungen in vier deutlich trennbare Quadranten:
• Akustisch-Auditiv
• Anatomisch-Mechanisch
• Sensorisch-Kinästhetisch und
• Stilistisch-Gebrauchsorientiert

Evan Bortnick Wiesbaden

Mein persönliches Ziel und mein Ziel beim Pädagogikunterricht ist es, mich so gut wie möglich in diesen Bereichen auszukennen. Das ist natürlich leichter gesagt als getan. Wie wir alle wissen, ist jeder dieser Bereiche ein Fass ohne Boden. Es gibt so viel zu lernen, zu lesen, zu hören und zu erfahren, dass es fast leichter ist bei nur einem zu bleiben. Trotz der schwindelerregenden Vielfalt lohnt es sich, eine neue Perspektive auf altes Wissen anzustreben.
„Sobald jemand in einer Sache Meister geworden ist, sollte er in einer neuen Sache Schüler werden.“ Gerhart Hauptmann

AKUSTISCH – AUDITIV
Um sich miteinander zu verständigen, muß man nicht nur auf den Sprecher hören, sondern auf den Akt des Zuhörens selbst.
Krishnamurti

Im akustischen Quadranten, wie in der Grafik zu sehen, werden Begriffe benutzt, die einen Fokus auf den Klang offenbaren. Klang ist, wie die Erfahrung so oft zeigt, rein akustisch sehr schwer zu beschreiben. Wenn wir einen Ton als „Hell“ beschreiben, ist das natürlich ein visueller Begriff. Was akustisch genau gemeint ist, müssen wir erfragen. Es könnte eine Dämpfung des Grundtons bedeuten. Es könnte ein Nebengeräusch im Primärklang sein. Es könnte auch Sängerformant sein. Genaue Kommunikation verlangt Präzision in dieser Hinsicht. Nur dann könnten wir die geeigneten pädagogischen Mittel einsetzten. Wir sprechen auch von der „Wärme“ eines Tones. Das ist ein kinästhetischer Begriff. Meistens ist eine Verstärkung des Grundtons gemeint. Wir können aber nicht sicher sein, bis wir fragen. Eine Obertonverstärkung im Bereich von 2.000 Herz z.B. nennen wir meistens Nasalität. Nasalität ist ein sensorischer Begriff. Entweder fühlen wir etwas in der Nase oder Nasegegend wenn wir „nasal“ phonieren oder wir benutzen unsere Spiegelneuronen und fühlen empathisch etwas in unserem Nasebereich wenn die andere Person nasal phoniert. So oder so, es ist eine Überleitung von einem „Quadranten“ zum anderen. Nicht, dass etwas falsch daran ist. Gar nicht. Wir brauchen uns nur von der Illusion zu befreien, dass wir alle die gleichen Begriffe benutzen.
Dazu kommt die Tatsache, dass wir unsere Stimmen beim Singen oder Sprechen anders hören, wahrnehmen, als unsere Zuhörer. Wir hören zum Teil durch die Knochen, Gewebe, Sinusräume, u.v.m. Obertöne werden intern anders verstärkt und gedämpft als extern. Deswegen ist es für so viele Menschen ein Schock, wenn sie ihre Sprech- oder Singstimme zum ersten Mal auf Tonband hören.“ Kling ich WIRKLICH so?“, ist oft die Frage. Dies ist bei Sängern im Konzertsaal oder im Operntheater besonders tückisch, denn zum Teil regeln wir die Tonqualität durch interne akustische Signale und zum Teil durch externe Schalleindrücke im Raum. Eine verstärkte Abhängigkeit von diesen externen Schalleindrücken heißt; wir sind der Akustik im Raum ausgeliefert. Wir kennen alle Sänger, die bei einer guten Raumakustik souverän klingen und bei schlechter Akustik sehr unsicher oder ausbalanciert klingen. Hier leistet dieses Quadrantenmodell ebenso gute Dienste. Feedback von Lehrern und Schülern kann durch ein Verständnis für diese Unterscheidungen spezifiziert werden. Beispiel: Ein Student sagt „Der Ton ist mir zu kalt.“ Und der Lehrer fragt „ist das etwas, was du hörst oder eher etwas, was du spürst?“ Die Antwort innerhalb dieser Unterscheidung macht den nächsten pädagogischen Schritt entscheidend deutlicher.
Nicht nur hören wir uns selbst anders als andere uns hören, sondern es ist wahrscheinlich, dass zwei Menschen den gleichen Klang bzw. Stimme tatsächlich anders hören. Die Wissenschaft deutet in letzter Zeit darauf hin, dass auf der Basis von Unterschieden in Ohrmuschelstruktur, Gehörgang, Nervenleitungen aber auch von Sprachgewohnheiten, linguistischen, kognitiven Filtern und einer ganzen Reihe von psychologischen Faktoren, Menschen verschieden hören.
„Zu guter Letzt sollte man die Tatsache, dass die gleiche Musik von verschiedenen Menschen emotional sehr unterschiedlich bewertet werden kann, nicht außer Acht lassen. Sie führt, zusammen mit der Tatsache, dass unterschiedliche Emotionen zentralnervös unterschiedlich repräsentiert sind, bei der gleichen Musik zu unterschiedlichen Aktivierungsmustern bei verschiedenen Hörern. Man hat daher gesagt, das Einzige, was sich an allgemeinen Aussagen zur Lokalisation von Musik bei Musikern sagen lässt, ist, dass es keine allgemeinen Aussagen gibt.“ Manfred Spitzer „Musik im Kopf“
Das wurde mir neulich in einem Abteilungstreffen sehr deutlich gemacht, als verschiedene Professoren und Dozenten über die gleiche Sängerin gesprochen haben. Ich hörte einen deutlichen S-Fehler. Andere haben nicht nur das gleiche Phänomen anders beschrieben, sondern ihre Beschreibungen machten es deutlich: sie hörten die Klänge tatsächlich anders als ich. Wir kennen das auch, wenn wir über große Sänger reden. Geschmack spielt natürlich dabei auch eine große Rolle, aber nicht nur. Ich kenne Leute, die Callas und Corelli lieben und andere, die behaupten, deren Stimmen sind einfach hässlich. Das letzte Wort ist von der Wissenschaft noch nicht gesprochen, aber es kann gut sein, dass jene Menschen diese Stimmen tatsächlich anders hören.
Aus diesem Grund ist es von primärer Wichtigkeit für Gesangspädagogen, Präzision in ihrer Kommunikation, besonders mit unerfahrenen jungen Sängern zu pflegen. Ein falsch verstandener Begriff, eine übertriebene Empfindung lassen Missverständnissen freien Lauf, die oft jahrelang danach ihre Korrektur suchen müssen. Besonders häufig sind Missverständnisse zwischen dem akustischen und im folgend beschriebenen sensorischen Quadranten. Die meisten jungen Gesangsstudenten machen hier gar keine Unterscheidung. Ein Klassiker, als Beispiel, ist ein Satz wie: „Die Höhe klingt eng.“ „Eng“ beschreibt in den meisten Fällen eine Empfindung. Die genaue Unterscheidung zwischen einem Gefühl der Enge und einem Klang, worin Obertöne zu filtriert sind, bzw. zu nah beinander sind, ist ein wesentlicher Faktor für den nächsten pädagogischen Schritt. Es kann sein, dass eine neue Empfindung von einem „schlanken Ton“ einfach ungewohnt ist und kriegt hierdurch die etwas negativere Etikette „eng“. Wenn das der Fall ist, ist es einfach eine Frage von Gewöhnung an diese neue Empfindung. Oft ist es gerade diese Unterscheidung, die für den Studenten ein „Aha-Erlebnis“ macht. Gerade die „multi-tasking“-Fähigkeit zwischen Akustik und Empfindung unterstützt eine Feinregelung, die vorher nicht da war.
Manchmal ist es sehr schwer, die genauen Worte für eine akustische Qualität zu finden. In letzter Instanz kommt es jedoch nicht auf die Genauigkeit der Beschreibung an. Die Suche allein verbindet neuronale Netzwerke, auditiv wie sensorisch, in einer Weise, die eine neue sängerische Gewohnheit etabliert. Dies hilft, die notwendigen muskulären Bewegungen automatischer werden zu lassen, so dass sich die Sängerin mehr auf Charakter, Emotion oder musikalische Intention fokussieren kann.

SENSORISCH – KINÄSTHETISCH
Die Sinne betrügen nicht. Nicht, weil sie immer richtig urteilen, sondern weil sie gar nicht urteilen…
Emmanuel Kant

Im sensorischen Quadranten werden Begriffe benutzt, die einen Fokus auf eine oder mehrere Empfindungen legen. Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, eine deutliche Unterscheidung zwischen „Empfindung“, „Gefühl“ und „Emotion“ zu machen. Diese Begriffe werden in verschiedenen Kontexten SEHR unterschiedlich benutzt. Eine Empfindung, so wie ich es hier meine, ist eine reine Beschreibung von einem isolierten sensorischen Reiz; die Empfindung einer Schneeflocke auf der Haut. Die Empfindung von Taubheit in der linken Hand. Die Empfindung von Kribbeln im Bauch. Die Empfindung von Resonanz im Brustkorb. Wenn wir von „Emotion“ reden, z.B., reden wir von einer psychologischen Feststellung, einem Urteil oder einer Bewertung. „Liebe“ z.B. ist eine komplexe Mischung aus verschiedenen Empfindungen, die wir als Feststellung dann Liebe nennen. Das Gleiche gilt für Hass, Ekel, Wut, Trauer uvm. „Gefühl“ wird oft als ein Sammelbegriff für Empfindung und Emotion benutzt. Es wäre genauso verständlich vom Gefühl der Liebe zu reden als einem Gefühl einer Schneeflocke auf der Haut.
Für Sänger ist der Such-Find-Prozess nach präzisen Empfindungen unabdingbar für die Verankerung von positiven, sängerischen Gewohnheiten.
”No teacher of vocal mechanics can hope to succeed unless he can make his pupils feel the appropriate sensations that accompany accurate technique. These sensations are in all cases subjective, and though a scientific explanation is not always at hand, the percept may, nevertheless, provide the key to correct singing.” Noel A. Bonavia-Hunt „Science and Sensations of Vocal Tone Caesari Vorwort
“Kein Gesangslehrer kann die Hoffnung auf Erfolg aufrecht erhalten, außer er bringt seinen Studenten die passenden Empfindungen für akkurate Technik nahe. Diese Empfindungen sind in allen Fällen subjektiv und obwohl eine wissenschaftliche Erklärung nicht immer parat ist, könnten diese Empfindungen den Schlüssel für korrektes Singen liefern.“ (Übersetzung Autor)

Je präziser die Empfindung und seiner Beschreibung, desto höher die Chancen einer verlässlichen Wiederholung. Die Namenssuche für eine Empfindung kreiert und stärkt die wichtigen neuronalen Netzwerke im Gehirn, die für den Übergang vom Kurzzeit-, Mittelzeit- zu Langzeitgedächtnis verantwortlich sind. Diese Empfindungsbeschreibung, der erfundene Begriff, dient auch oft als ein Trigger oder als Anker für die Wiederholung des balancierten Tones. Sänger sind natürlich hier sehr verschieden und das ist auch richtig so. Manche lieben Begriffe und benutzen sie zur Feststellung und Wiederholung ihrer eigenen Gewohnheiten. Andere wirken genervt wenn sie zu viel und zu oft ihre Empfindungen auf den Nenner bringen müssen. Für solche reicht es, eine innere Gestalt für die Wiederholung zu haben. Egal wie diese komplexe Empfindungskombination repräsentiert wird, jeder Student befestigt seine sängerischen Erfahrungen mit einem verlässlichen Anker. Ob innere Gestalt, Bild, Form, Farbe oder Wortgestaltung, die Wiederholbarkeit des individuellen Prozesses, der zum balancierten Ton führt, ist von primärer Wichtigkeit.
Wie ich am Anfang schon angedeutet habe, herrscht hier oft, besonders bei jungen Lehrern, eine große Intoleranz. „Nur diejenigen, die ihre Empfindungen repräsentieren wie ich es tue, sind wirklich gute Sänger“…ist die Devise von solchen unerfahrenen, intoleranten Lehrern. Das ist natürlich schade, denn es sind gerade diese Unterschiede, die unsere Kunst interessant macht. Mehr noch, Sänger, die anders gestrickt sind als die Durchschnittsnorm, werden mit der Zeit oft die wirklich interessanten Künstler!

ANATOMISCH – MECHANISCH
„Anatomie leistet am organisierten Wesen, was Chemie am unorganisierten.“
J.W.Goethe
Im anatomischen Quadranten werden Begriffe benutzt, die einen Fokus auf anatomische Strukturen legen. Interessanterweise gibt es unter Sängern und Lehrern immer noch einen merkwürdigen Widerstand gegen Beschreibungen in diesem Quadranten. Es ist als würden sich manche Sänger vor ihrer eigenen Anatomie ekeln. Eine mögliche Erklärung wäre z.B., dass die Nennung von anatomischen Strukturen nur im Falle von Krankheiten erlaubt ist (und dann nur von Ärzten), was eine unangenehme Assoziation mit Krankheit mit sich bringt. Eine andere mögliche Erklärung wäre, dass sich eine (oder mehrere) Gesangstradition-(en) entwickelt haben und das in einer Zeit lange bevor moderne Recherche Klarheit über anatomische Funktionen gebracht hat. Treue zur Tradition würde dann eine Ablehnung der Studie der Anatomie bedeuten. Für Instrumentalisten käme so etwas natürlich nicht in Frage. Ihre Instrumente werden aus Holz oder Metall gebaut. Bei ihnen herrscht eine regelrechte Neugier über den Bau und die Funktionsweise der Instrumente.
Ein Fokus auf die Anatomie ist NIEMALS die letzte Instanz. Eine Sängerin, die einen Dauerfokus auf ihren Kehlkopf, ihr Zwerchfell oder ihre Beckenbodenmuskulatur legt, baut ihre eigene Präsenz und den Kontakt zum Publikum deutlich ab. Der pädagogische oder sängerische Fokus auf Mechanik und Muskulatur ist immer ein Mittel zum Zweck. Der Zweck ist immer eine authentische, kreative, „instinkt-ähnliche“ Gesangstechnik.
„Any teacher who takes pride in being a “voice builder” should be wary lest in constructing the technique of the singer, creativity is destroyed or obscured.“ Richard Miller “The Structure of Singing”
„Jeder Lehrer, der sich mit Stolz für einen “Stimmbildner“ hält, sollte gut aufpassen, dass in der Formung einer Sängertechnik nicht die Kreativität vernichtet oder unterdrückt wird.“ Übersetzung Autor
Wie schon vorher erwähnt, gibt es eine starke Assoziation zwischen dem Studium von Anatomie und Krankheit. Als extremes Beispiel: vor Jahren suchte ich für meine Klasse gute Aufnahmen von gesunden Kehlkopf/M.Vocalis -Bewegungen. Ich habe Bell Laboratories in den USA angerufen, um möglicherweise solche Aufnahmen zu kaufen. Mein Gesprächspartner fragte mich ob Aufnahmen von Krebskranken in Frage kämen, Disphonie oder einfache Entzündungen. Keine davon, antwortete ich. Ich suche Aufnahmen von „normaler“, gesunder Funktion. Normal, sagte er, das gibt’s hier nicht. Uns interessiert nicht „Normal“. Da gibt es kein Geld für die Aufnahme. Gelder gibt’s nur für Krankheit. Ein anderes Mal hatte ich während einer Hauptfachstunde Bilder von Zwerchfell, Weichgaumen und Nackenwirbelsäule auf einem Flipchart. Die Sängerin bat mich, die Bilder umzudrehen, bevor sie singen könne. Sie würde sonst irgendwie immer an Krankheit denken, wenn sie singt! Diese Beispiele (und es gibt viele Ähnliche) machten mir deutlich, wie stark die Assoziation zwischen Krankheit und Anatomie sein kann. Das ist verständlich. Wenn die einzigen Bilder, die man von diesen Strukturen zu sehen bekommt, von Ärzten sind und sie Krankheit dokumentieren, bleibt die konditionierte Verbindung: Anatomie=Krankheit. Das muss natürlich nicht sein. Innere Bilder von Organen, Muskeln und Prozessen können sehr heilend wirken. Es ist wie immer nur eine Frage von Fokus und Übung.
In einer Pädagogikklasse bat ich letztens zwei Sopranstudentinnen einen einfachen Oktav-glissando auf „U“ zu singen und dann ihre Empfindungen zu beschreiben. Die erste Sopranistin sagte: „ich hatte ein starkes Gefühl für Resonanz unten und dann wanderte dieses Resonanzgefühl beim hohen Ton in die Maske.“ Die zweite sagte: „beim unteren Ton öffnete der untere Querschnitt im Vokaltrakt, was eine verstärkte sekundäre Resonanz im Schlüsselbein und Brustbein verursachte und beim oberen Ton bewegte sich mein Sphenoidknochen und Hamulus Pterigoideus so, dass der Weichgaumen in einer höheren Position war und effektive Sekundärresonanz zum Maxilla- und Frontalknochen leitete. Dabei kippte die Empfindung für die Klangsäule minimal nach hinten, was ein Gefühl für Balance verursachte.“ Die erste Sopranistin schaute die zweite an, als käme sie von einer anderen Galaxis. Sobald es klar wurde, dass beide sehr ähnliche Empfindungen mit verschiedenen Worten beschrieben hatten, wurden die Blicke etwas klarer und freundlicher. Das ist nicht nur eine Frage von zwei Menschen, die unterschiedlich beschreiben. Die Zweite versteht die Erste genau, aber die Erste versteht die Zweite gar nicht. Das verschafft der Zweiten einen Vorteil, besonders als Pädagogin. Der Vorteil, mechanisch-funktionell etwas zufriedenstellend beschreiben zu können stellt ein wichtiges sängerisches Bedürfnis zufrieden. Das Verständnis dafür wie unsere Körper und die Stimmen tatsächlich arbeiten führt zu einer besseren Funktionsweise. Noch viel wichtiger für uns Pädagogen: Das Verständnis dafür, wie die Stimme und ihre Funktionen zusammenhängen, schenkt uns viel mehr kreative Übungsmöglichkeiten und Lösungen als nur das Verständnis für den Klang allein.
„In every field the man who can merely do things without knowing why is at a disadvantage to the one who can not only build but also tell you just why he is building in that way. This is especially noticeable when the prescribed cycle does not obey the laws it is supposed to: then the laborer must sit by with folded hands while the mechanic or engineer comes in and adjusts the delicate mechanism.” Reuben Fine “The Ideas Behind Chess Openings.”
„Egal mit welcher Arbeit, der Mensch der nur schafft, ohne genau zu wissen warum, hat einen deutlichen Nachteil gegenüber dem Menschen, der nicht nur schafft, sondern auch weiß warum er das schafft, was er schafft. Das ist wird besonders dann klar, wenn der Vorgang nicht den Gesetzen gehorcht denen er gehorchen soll: dann muss der bloße Schaffer daneben sitzen und Daumen drehen, während der Mechaniker die Feinregulierung vornimmt.“ Übersetzung Autor

Stilistisch – Gebrauchsorientiert
„Es ist ein Beweis der Bildung, die größten Dinge auf die einfachste Art zu sagen.“
Ralph Waldo Emerson
Im Stilistischen Quadranten werden Begriffe benutzt, die einen Fokus auf Stil und Orientierung auf dem „Markt“ legen. Mit anderen Worten ist der Fokus darauf gerichtet, wie die Stimme vermarktet werden könnte, für was sie benutzt werden könnte. Die Begriffe hier sind diejenigen, die von Kritikern, Intendanten und Agenturen benutzt werden. Deswegen allein ist es von primärer Wichtigkeit, diese Art von Ausdruck zu kennen und zu lieben. Ich kannte eine sehr erfolgreiche amerikanische Sängerin die nach Deutschland kam und mir erzählte: „Wenn ein Kritiker oder Agent sagt; ‚die Stimme hat Metall‘, ist das ein Kompliment. ABER wenn er sagt; ‚die Stimme ist metallisch‘, ist es meistens eine negative Kritik.“ Das war eine Lernerfahrung für mich, wie unterschiedlich Menschen hören und das beschreiben, was sie hören. Mehr noch, es war wichtig zu verstehen, was als positiv und was als negativ bewertet werden kann.
Die verschiedenen Begriffe, die wir für „Fach“ benutzen, finden sich alle in diesem Quadranten. Hier ist natürlich eine Überlagerung der Quadranten sehr fruchtbar. Wenn ein Dirigent zu einem Lehrer über einen Sänger sagt; „Die Stimme muss für diese Szene dramatischer klingen.“, muss der Lehrer im akustischen UND anatomischen Bereich genau wissen, was gemeint ist und zwar nicht nur allgemein, sondern spezifisch für diesen Sänger! Was für einen Ansatz? Was für einen Absatz? Welche Vokalfarben und in welcher Lage? Welches Verhältnis von Spannungs-Masse? Wie beziehen sich die Formanten zu einander? Wie ändert sich das Gefühl für Zwerchfellsenkung zwischen ‚lyrisch‘ und ‚dramatisch‘? Wie beeinflusst diese Senkung die Psoas-Iliopsoas Strukturen und den tracheale Zug? Wie sind die Lumbarwirbelsäule und der Beckenboden gestellt? Welche Empfindungen sind im Frontalknochen und Spheniodknochen zu suchen? Diese und viel mehr Fragen sind entweder bewusst, vorbewusst oder unbewusst bei einem erfahrenen Pädagogen sofort vorhanden, wenn er eine solche Aussage hört.
Ich kann mich gut daran erinnern, in New York, in meinen jüngeren Jahren, als Renate Scotto, Beverly Sills, Leontyne Price und Birgit Nillson noch live zu hören waren, gab es sehr belebte Unterhaltungen über den Unterschied zwischen einem italienischen und einem amerikanischen Klang, einem schwarzen Klang und einem nordischen Klang. Hier haben wir Beschreibungen innerhalb dieses Quadranten benutzt. Natürlich gibt es entsprechendes Repertoire in all diesen Kulturen und auch die Benutzbarkeit der einen oder der anderen Stimme in diesem Repertoire liegt innerhalb dieses Quadranten.
Diese stilistische, gebrauchsorientierte Beschreibungsart ist für die Künstler die sie benutzen ein wichtiger Komplexitätsverminderer. Deshalb ist es bedeutend für uns, die die Komplexität kennen und schätzen, zu verstehen, was gemeint ist oder nachzufragen, wenn es unklar ist. Dies gilt besonders für junge Gesangsschüler. Oft kommen in Gesangsstunden Fragen oder Aussagen aus diesem Quadrant, die, wenn sie nicht explizit vom Lehrer erläutert werden, zu großen Verwirrungen beim Student führt. Von daher allein lohnt es sich, meiner Meinung nach, multidimensional und multikontextual zu denken. Dieses Quadrantenmodell ist dabei ein Anfang.
„Auch wenn zu Beginn einer sängerischen Ausbildung häufig ein physiologisch und gesangstechnisch orientiertes Stimmtraining im Vordergrund steht, so muss der menschliche Mitteilungscharakter des Singens stets Basis und Ziel einer jeden Gesangsübung sein.“ „Die Sängerstimme“ Seidner-Wendler

Beispiele für’s Gebrauch und Integration

Ein Beispiel für den Gebrauch dieses Modells ist in Bezug zu dem Phänomen des sogenannten „Registers“: Register, wie wir wissen, ist eine Metapher aus der Orgelwelt. Es beschreibt einen Klangeindruck ähnlich dessen was man hört, wenn man eine Reihe von Orgelpfeifen ändert. In diesem Sinne gehört es natürlich in diesem Modell zum akustischen Quadranten. Wenn wir von Bruststimme und Kopfstimme reden, ist das eine Referenz an den sensorischen Quadranten. Sänger fühlen eine Dominanz ihrer Resonanz entweder im Brustkorb oder im Schädel. Sehr empathische Zuhörer spüren auch in ihrem eigenen Körper Resonanzen wenn ein Sänger singt. Das gehört alles in den sensorischen Bereich. Wie würde eine anatomische Beschreibung dieses Phänomens klingen? Funktionale Gesangslehrer haben die Begriffe „Masse-Dominiertes ‚Register‘“ und „Spannungs-Dominiertes ‚Register‘“ übernommen. Das ist natürlich das gleiche in Grün sozusagen; ein Phänomen aus einer anderen Perspektive beschrieben. Bedeutet: Dominanz von Spannung (Aktivität des Crico-Thyroideus = Kopfstimme) und Dominanz von Masse (Aktivität des Vocalismuskels = Masse). Wenn wir den muskulären Antagonismus zwischen dem M.Vocalis und M.Cricothyroideus (die Muskel, die außerhalb der Schildknorpel die Stimmlippen spannen) außer Acht lassen, können wir immer noch anatomisch von einer anderen Vibrationsorganisation der Stimmlippen reden. Recherche plus Erfahrung lassen vermuten, dass die Vibrationsart der Kopfstimme nicht nur mehr zum Rand organisiert ist, sondern auch mehr vorne. Früher haben Wissenschaftler vom sogenannten „Damping Effect“ gesprochen. Die Behauptung war, dass die hinteren, dickeren Teile des M.Vocalis schließen und die vorderen mehr vibrieren. Obwohl die Behauptung immer noch umstritten ist, berichten viele Sänger, dass sie hohe Töne viel mehr vorne an den Stimmlippen spüren als hinten. Mit anderen Worten, selbst dann wenn „Damping“ nicht den genauen Tatsachen entspricht, ist es ein wertvolles, pädagogisches, anatomisches Bild für Sänger. So oder so, ein anatomisch-mechanisches Verständnis von Aktion und Verhalten der Stimmlippen ist unabdingbar für eine exakte Übungsreihe bei Gesangsstudenten.
Wie könnte man „Register“ im stilistischen Quadranten beschreiben? Ein Beispiel wäre der Begriff „Belting“ . Obwohl es nicht zum klassischen Stil gehört, diejenigen, die es kennen, haben durch den Begriff allein einen deutlichen Klang im Ohr. Belting ist Gang und Gäbe im amerikanischen Musical-Stil. Gerade weil Musicals oft in deutschen Theatern gespielt werden und, wenigstens ab und zu, Opernsänger im Festengagement darin besetzt werden, ist es von Vorteil, wenigstens eine Ahnung von diesem Klang zu haben. Nur dann kann ein Sänger wissen, wie er diesem Klang in einer gesunden Stimmproduktion nah kommt.
Der leicht nasale Klang (Twang auf Englisch) mit der Überbetonung der Massedominanz macht immer einen etwas „ordinären“ Eindruck, der manchmal in leichteren Formen auch in der Oper zu finden ist. In Charakterpartien oder wenn Sänger Gehässigkeit oder Aggression zum Ausdruck bringen wollen, ist eine „Belt“-ähnliche Betonung des Masse- oder Brustanteils, zusammen mit einer überhellten Vokalfarbe uvm. oft Stilmittel. Für ein Sänger-Lehrer Team, das sich versteht, ist es eine Komplexitätsverminderung wenn man sagt: „Mach so ein bisschen ‚Belt‘ in den Klang hinein“. Wenn eine solche Kurzformel aus dem stilistischen Quadranten funktioniert, spart es Zeit und Energie. Natürlich ist es von gesundem Vorteil wenn Sänger sowie Lehrer auch die Implikationen in den anderen Quadranten kennen.
Ein anderes Beispiel und etwas komplexer, ist der Begriff „Stütze“. Hier, bei einem solchen komplexen Begriff, sehen wir die Vorteile einer multi-perspektivischen, multi-kontextualen Sichtweise. Selbst Lehrer, die genau verstehen, was „Stütze“ heißt, benutzen oft Komplexitätsverminder in der Kommunikation mit ihren Studenten. Eine solche schnelle Erklärung ist z.B., die Hände in den Bauchnabelbereich zu bringen während ein Student singt, mit der lauten Ermunterung „STÜTZEN!!!“ Obwohl diese Ermunterung oft in einem kräftigeren Ton resultiert, wird sie doch häufig vom Studenten missverstanden. Die Studenten verstehen darunter oft eine Straffung der Bauchmuskulatur, ähnlich wie beim Heben eines Klaviers oder beim Anschieben eines Autos.
Ich würde gerne versuchen, diese möglichen Missverständnisse mit einer Reise durch die Quadranten aufzuklären. Fangen wir mit dem anatomischen Quadranten an: wenn sich das Zwerchfell senkt, erzeugt es einen Unterdruck in den Lungen. Durch diesen Unterdruck fließt, wenn wir einatmen, natürlich Luft ein. Gleichzeitig erzeugt die Senkung des Zwerchfells einen Überdruck im Bauchraum. Das heißt, wenn die Bauchmuskulatur, Beckenbodenmuskulatur und Lumbarwirbelsäule u.a. in der Lage sind, diesen Überdruck flexibel auszugleichen, kann das Zwerchfell optimaler sinken. Das erzeugt einen balancierten trachealen Zug. Das erlaubt es, den Kehlkopf flexibler zu senken, was mehr Raum im Vokaltrakt erzeugt. Dieses Mehr an Raum unterstützt mehr Teiltonverstärkung (vor allem Grundton und erster Formant), was mehr Wärme und Tragfähigkeit erzeugt. Die Bauchmuskulatur, der Beckenboden und die Wirbelsäule sind beim Singen alles andere als schlapp. Gleichzeitig verhindert die Überbetonung des Überdrucks aus diesem Bereich eine flexible Senkung und Senkungsstabilität des Zwerchfells. Das erzeugt einen zu hohen subglottischen Luftdruck und weniger Raum im Vokaltrakt, unserem primären Resonator. Das filtriert allzu oft die schönsten Obertonangebote!
Das was Sänger fühlen wenn sie gut „Stützen“ ist ebenso komplex. Dazu kommt die Tatsache, dass jeder Sänger einen anderen Körper hat, mit anderen Wahrnehmungsfiltern. Mehr noch, je nach Tagesform, Jahreszeit, Mondphase und verschiedenen anderen wichtigen Zyklen, erleben Sänger ihre eigenen Körper und Stimme auch verschieden. Das bedeutet, dass eine sensorische Beschreibung von einem Sänger, sei es noch so präzise und komplex, nicht unbedingt auch so von einem Anderen erlebt wird. Allein die Beckenbodenstellung verschiedener Sänger durch Torsion, Lordosen und Kyphosen, u.v.m. führt zu einer anderen Sensibilität für diese wichtigen Druckverhältnisse beim Singen. Wichtig ist es, zu verstehen, dass es Kräfte im Beckenboden, im unteren Bauchraum und der Lunge gibt, die beim Singen einen Überdruck sowie auch Unterdruck erzeugen. Die Druckempfindungen für diese Kräfte versuchen in einer dynamischen Balance zu sein und nie nur in einer Richtung. Unser Begriff „Inhalare la Voce“, bei Caruso geliebt, ist eine gut treffende sensorische Beschreibung dieser Balance. Der inhalatorische Impuls ist immer ganz deutlich zu spüren, ob die Lunge zur vollen Seite oder leeren Seite tendiert, ob laut oder ob leise, ob hoch oder ob tief. Viele Sänger beschreiben diese Empfindung mit einer fast erotischen Ekstase. Noch einer von vielen Begriffen, die „Stütze“ im sensorischen Bereich beschreiben, ist natürlich „Appoggiare in Petto“, eine Empfindung, die von Sängern, die es kennen, leicht zu verstehen ist und sehr missverstanden werden kann von Studenten, die es nicht kennen. Von daher führen reine Beschreibungen oder Demonstrationen von Lehrern ohne eine deutliche Eigenreferenz von Studenten eher zu Missverständnissen. Die Lösung ist denkbar einfach:
1. Verstärke studentischen Kontakt mit seinen Empfindungen für Druck.
2. Biete eine Übung, die einen Vergleich erzeugt und „Stütze“ verstärkt.
3. Lass den Student beschreiben, was er genau spürt, mit Ergänzungen des Lehrers und,
4. Integriere die Empfindungen so, dass es wiederholbar ist, auch ohne die Übung aus 2.
Was gute „Stütze“ akustisch herstellt, ist relativ einfach zu beschreiben. Grundton, erstes und zweites Formant und vor allem Sängerformant sind deutlich und optimal verstärkt und beziehen sich hörbar zueinander. Das tonale Angebot vermittelt eine deutliche Emotionalität, die zu dem Text passt. Der Ton ist frei von Nebengeräuschen (mit ein paar Ausnahmen, je nach emotionalem Ausdruck) und scheint sogar mit zunehmender Distanz lauter zu werden. Wie Wellen (Elektromagnetisch, Evaneszente, Plasma, u.s.w.) durch Raum propagieren und dabei in ihrer Intensität stärker werden, bleibt, wenigstens zum Teil, ein Mysterium für Physiker. Dieser Welleneffekt ist in guten Opernhäusern sehr deutlich zu hören und ist eine der wundersamsten Nachwirkungen von guter „Stütze“. Oft ist es nicht einmal ein Produkt von Lautstärke an sich, sondern vielmehr ein synergistisch akustischer Effekt. Sänger, Gesangslehrer und alle, die sich für das Singen so richtig begeistern, können ganze Bücher mit Beschreibungen dieser Art füllen. Meine Absicht ist es, hier deutlich zu zeigen, wie eine Beschreibung von Stütze in diesem Quadranten aussieht.
Im stilistischen, gebrauchsorientierten Quadranten wird der Begriff „Stütze“ als Mittel zum Zweck benutzt; leider nicht immer mit dem erwünschten Resultat. Ich war neulich in einer Probe mit jungen klassischen Sängern, die moderneres Repertoire singen mussten. Der musikalische Direktor wollte nicht unbedingt einen klassischen Klang und brüllte während das elektrische Ensemble immer lauter spielte: „Mehr Stütze, pressen, pressen!!!“ Das ist natürlich ein extremes Beispiel dafür, wie dieser Begriff als Stilmittel benutzt werden kann. Alexander Pope schrieb einmal: „A little knowledge is a dangerous thing…“ („ein bisschen Wissen ist eine gefährliche Sache…“) Er hätte von Singen sprechen können!
Technik, System, Methodik und Modellbildung ist in der Gesangspädagogik unabdingbar. Ich würde sogar behaupten, dass in jedem pädagogischen Kontext Klassenbildung und die Gruppierung von Prinzipien der erste Schritt ist hin zu Verständnis von Struktur und Überblick. Wir Menschen können wegen unserer stark semantischen Prägung nicht nicht Generalisieren. Wenn aber die Klassenbildung zu vereinfacht ist, tilgen diese Generalisierungen wichtige Details und Komplexität aus dem System.
Ich lese zum Beispiel mit begeistertem Interesse die verschiedenen Standpunkte über Einatmer-Ausatmer / Soli-Luna. Hier haben wir wieder ein Modell (wie alle solchen Modelle) die viel zu tump und eindimensional verstanden werden können. {Dazu kommt, dass eine bestimmte Qualität von unsicherem Mensch-sein (die wir alle erkennen, in uns selbst und auch anderswo), versucht, die Ideen von Anderen klein zu machen, um sich selbst groß zu fühlen. Das macht es dann schwierig eine objektiv, wissenschaftliche Fragestellung voran zu treiben.} Besonders im Hinblick auf mein Quadrantenmodell ist eine wichtige Frage: „Wie kann ich eine solche Polarität (Einatmer-Ausatmer, Sympatikus-Parasympatikus, Yin-Yang, Aktiv-Passiv, Soli-Luna, Mars-Venus, Introvertiert-Extrovertiert, Masse-Spannung, Hinterespannungskette-Vorderespannungskette, usw.) so verstehen und benutzen, dass es Sänger mehr mit ihren Ressourcen in Kontakt bringt?“ Da gibt es viele Theorien und Ideen die (noch) keine Grundlage in Anatomie oder Physik haben, die aber im sensorischen Quadranten Vorteile für manche Sänger bringen! Als extremes Beispiel: ich habe sogar im Gesangsunterricht eine Sopranistin gebeten, sich in der extremen Höhe eindeutig vorzustellen, dass die Stimmlippen zwischen ihren Augenbrauen seien! Die Klasse, gut geschult in Anatomie, schaute mich so schräg an, dass ich dachte, ich muss gleich kündigen. Das Klangresultat machte aber meinen sehr unanatomischen Vorschlag eindeutig. Warum? Jeder Versuch, bei einem hohen Ton die Stimmlippen deutlicher zu spüren, animiert Vocalis-Muskelmasse. Gerade in einer Lage, wo Masse abgegeben werden sollte und zwar in einer sehr präzisen Weise, brauchen wir ein verstärktes Gefühl für die sekundären Resonanzeffekte von Spannung. Die Vorstellung, dass die Stimme IM KOPF ist mag anatomisch falsch sein….ist aber sensorisch SEHR richtig. Nur mit einem Verständnis für diese gravierenden Unterschiede können wir unsere Sänger optimal unterstützen und nicht in einem methodischen oder technischen Engpass landen.
In diesem Sinne hoffe ich, dass meine Leser offen und pädagogisch flexibel mit diesem Modell umgehen und, dass er für Alle gute Dienste in ihren Gesangsstunden leistet.

Evan Bortnick Wiesbaden