Atmung, Zwerchfell, „Stütze“ und Klassischer Gesang
Klassische Sänger und seriöse Gesangslehrer sind ständig auf der Suche nach zwei Dingen: dem optimieren der Atemprozesse sowie der bestmöglichen Kommunikation, um diese Prozesse klar herüberzubringen. In jeder Stimmbildung spielt Atmung implizit oder explizit eine entscheidende Rolle in der Stimmproduktion. Wir Menschen haben verschiedene Wahrnehmungsgewohnheiten. Das bedeutet für den Gesangsunterricht, dass wir als Gesangslehrer nicht einfach unsere bevorzugten Wahrnehmungsgewohnheiten auf unsere Studenten stülpen, sondern fokussiert die Gewohnheiten des Studenten ‚artgerecht‘ optimieren. Besonders bei der Atmung ist das von großer Wichtigkeit! Atmung ist ein Prozess, den wir direkt sowie auch indirekt steuern können. Deswegen ist sie auch so oft Mittel der Wahl bei Tranceinduktion, Meditation und Yoga. Durch diese doppelte Funktionsweise ist sie ein fundamentales Mittel, um viele indirekte Prozesse regelbar zu machen.
Unser Haupteinatmungsmuskel ist das Zwerchfell. Wenn wir inhalieren sinkt das Zwerchfell. Das erzeugt einen Unterdruck in der Lunge und Luft fließt rein. Gleichzeitig erzeugt das Fallen einen Überdruck im Bauchraum. Wenn unsere Bauchmuskeln, Organe, Dick- und Dünndarm, Beckenbodenmuskulatur und Wirbelsäule in der Lage sind auf diesen Überdruck zu reagieren, kann das Zwerchfell effizienter fallen. Das erzeugt mehr trachealen Zug, was dann unseren Kehlkopf flexibler fallen lässt. Ein tiefer und flexiblerer Kehlkopf bedeutet bessere Stimmlippenfunktion und größere Teiltonverstärkung. Unser Singen ist schöner, müheloser und emotional ausdrucksstärker.
Das Tückische ist dabei, dass das Zwerchfell relativ wenige afferente Nervenverbindungen hat (ähnlich zu unserem Herz und Hirn). Das bedeutet, wir haben wenig Empfindungszugang. Die gefühlte Regelung des Zwerchfells (wie beim Herzen auch) erleben wir indirekt. Das heißt, wir fühlen die Effekte der Überdruck-Unterdruck Balance beim Atmen aber nicht im Zwerchfell selbst. In unserem Verlangen, diese Prozesse beim Singen zu steuern, sind Übertreibungen aller Art leider an der Tagesordnung! Beim Gesangsunterricht in Wiesbaden, in meinem Studio, habe ich Schüler erlebt die als „Zwerchfellübung“ versucht haben, mit dem Bauch das Klavier zu schieben. Der Ton war entsprechend hart, eng und unflexibel. Im Jazz Gesangsunterricht oder Pop Gesangsunterricht ist das vielleicht ein Mittel der Wahl, um ein bestimmtes Klangbild zu erzeugen und dann nur ein paar Mal und sehr präzise und deutlich eingesetzt und gerahmt. Als tägliche Übung jedoch bringt es dem jungen Sänger nichts anderes, als seine Bauchmuskeln, Beckenbodenmuskeln und Beine steif und rigide zu halten. Welche Übungen eignen sich dann besser, um optimal Beckenboden- und Bauchmuskelbeteiligung zu trainieren?
- Bitte den Studenten beim Singen dazu die Hände unter den Bauchnabel zu legen.
- Frage was er unter den Händen beim Einatmen, Phonationsanfang, höchstem Ton und Stimm-Absatz erlebt (hierbei ankern wir Empfindungszustände für den späteren Vergleich.)
- Wiederhole ein paar Mal, bis die Beschreibung klar und spezifisch ist.
- Bitte den Studenten, die gleiche Phrase zweimal zu singen. Das erste Mal wie gehabt. Das zweite Mal bei der Einatmung mit einem angehobenen rechten Bein, den Oberschenkel parallel zum Boden. Bitte ihn gleichzeitig, beim Singen mit der rechten Hand das Knie leicht nach unten zu drücken, während der Oberschenkel parallel zum Boden bleibt.
- Frage wie der Ton das zweite Mal anders ist, egal wie subtil er das erlebt, und gleichzeitig zu beobachten, was unter der linken Hand anders ist beim Atmen und Singen. (Diese Art von Empfindungsmultitasking ist leichter für manche als für andere. Das heißt, der Lehrer braucht Geduld, um die Wahrnehmung des Studenten zu stärken!)
- Wiederhole auch hier ein paar Mal bis die Unterschiede von Atem, Stimme und Resonanz klar und spezifisch sind.
- Drehe die Prozedur um. Das erste Mal mit gehobenem und leicht gedrückten Bein, das zweite Mal ohne, mit dem Wunsch, die gleichen Klang- und Resonanzerlebnisse zu wiederholen.
- Frage den Studenten was jetzt anders ist als zu Beginn und wie er es schafft, die gleiche Tonqualität zu produzieren auch ohne Beinhebung.
- Frage ihn was er tun kann, um sicher zu sein, dass er das morgen wiederholen kann wenn er allein zu Hause übt.
Diese Übung und eine ganze Reihe ähnlicher Übungen isolieren, trainieren und integrieren viele verschiedenen Dinge für all diejenigen die Gesang studieren. Wegen der Balance-Ansprache gleichen sich inhalatorische und exhalatorische Kräfte aus. Der Ganzkörpertonus wird optimiert und zugleich wegen der Balance nicht einseitig übertrieben. Das Zwerchfell wird durch verstärkte Psoas/Iliacus/Iliopsoas Flexions-Aktivität deutlich mehr gesenkt. Die Beckenbodenmuskulatur wird indirekt geöffnet, was auch die Zwerchfellsenkung begünstigt. Da sind ein paar noch kompliziertere Prozesse im Gange, die Sänger deutlich spüren, selbst wenn sie es nicht auf den Nenner bringen können. Die Gesamtheit der Erklärungsmodelle ist nicht einmal notwendig (obwohl SEHR hilfreich), um Studenten mit solchen Übungen schnellstens auf die Sprünge zu helfen. Hier ist jeder Gesangslehrer gefragt: welche Balance von Theorie und Praxis, von Erklärung und Verhalten ist für diesen Studenten richtig?
Die Empfindungen für Balance, Ausgleich, gutartiger Körperspannung und Tonus, sowie auch Druckverhältnisse unterhalb und oberhalb des Zwerchfells sind das, was man oft „Stütze“ nennt. Das heißt 1. eine stabile, wiederholbare Energielieferung in der Form des Luftflusses und subglottischen Luftdrucks, 2. optimal phonierende Vokalismuskeln die genauso leicht in Flexion gehen wie in Kontraktion und 3. spürbare Resonanz, nachdem der Sänger bewusst, vorbewusst oder auch unbewusst seine Stimme nach Ausdruckswunsch steuern kann. All das gehört zu dem, was für Gesangslehrer und Sänger „Stütze“ bedeutet. In Stimmbildung Gesang sowie auch für den Vocal Coach wird, je nach Ausgangslage, all das mit der Zeit selbstverständlich. Ich weiß, in der Beschreibung klingt es kompliziert, aber die Balance, die daraus entsteht, fühlt sich sehr natürlich und spielerisch leicht an.
Die Frage: „kann man singen lernen?“ kann mit der gleichen Antwort beantwortet werden wie „kann man Atmen lernen?“ Beide ist etwas, was wir ‚natürlich‘ machen…..UND….beides können wir effizienter und freudevoller lernen. Die obere Übung tut beides.
Funktionales Stimmtraining, Funktionale Stimmbildung geht meistens davon aus, das die „Funktion“ im Mittelpunkt steht. Klassischer Gesang geht davon aus, dass der Stimmklang im Mittelpunkt steht! Der Treffpunkt beider dieser Ansichten liegt in solchen Übungen, worin der Student und seine Wahrnehmung im Mittelpunkt stehen. Die Übung ist modifiziert aus der klassischen funktionalen Stimmbildung und kann für klassischen Gesangsunterricht jedoch genauso gut für Rock- Jazz- und Pop Gesangsunterricht angewendet und modifiziert werden. Die Prozedur reflektiert den pädagogischen Wert: „hol den Studenten da ab, wo er ist!“ Das heißt, mache es deutlich für den Studenten und für dich, als Gesangslehrer: was ist die Ausgangsituation. Das macht Fortschritte umso deutlicher. Gesangslehrer Gesucht heißt dann; Gesangslehrer Gefunden!
Ähnliche Übungen kann man als Vocal Coach, Präsentations Coach und Charisma Coach sowie auch in der Sprecherziehung sehr effektiv gebrauchen. Mit genug Erfahrung und einem klaren Konzept, kann man in der Stimmbildung ganz spontan effektive Übungen zielgerecht und maßgeschneidert für den Studenten erfinden.
Die besten Gesangslehrer lernen nie aus. Sie sind ständig auf die Suche nach einer Verfeinerung ihres Wissens und ihrer Praxis über und mit Atmung und der Stimme selbst.
Gratuliere. Sie sind eine/einer davon, oder Sie wären nicht hier!!!