Verwirrung als Vorstufe Zur Erleuchtung
Verwirrung, Desorientierung, Chaos im Kopf, Durcheinander, Unsicherheit… Lehrer und Coaches hören von ihren Klienten sehr oft davon. Natürlich ist es unser Ziel, sowohl für uns selbst als auch für unsere Studenten/Klienten, Sicherheit und Orientierung herzustellen. ABER es ist oft wünschenswert, wenn nicht sogar notwendig, in einem Wachstumsprozess Verwirrung zuzulassen.
Sigmund Freud sagte: „Neurose ist Intoleranz für Ambiguität“. Wenn das nur ein bisschen stimmt, dann ist Verwirrung und Desorientierung eine Art Anti-Neurose-Programm für die Seele. Wenn wir eine Gewohnheit haben, besonders eine, die wir gerne ändern wollen, läuft diese Gewohnheit ein gutes Stück auf Autopilot. Das heißt, es fühlt sich „fremdgesteuert“ an. Es fühlt sich ein bisschen an wie ein „Instinkt“ oder ein „Reflex“. Selbst wenn wir genau wissen, dass diese Art von Gewohnheit, strikt gesprochen, weder ein Instinkt noch ein Reflex ist, so hat es doch eine Qualität von Automatismus. Bei ungewünschten Gewohnheiten ist es gerade dieser Automatismus den wir nicht mehr wollen. Es ist für uns „natürlich/normal“ geworden. Wir wollen es aber nicht mehr. Genau da liegt’s! Denn es bedeutet, dass das was wir wollen sich „Un-Natürlich“ anfühlen wird. Genau daher kommt die Desorientierung und Unsicherheit und genau daran liegt es, dass es wünschenswert ist.
Wenn beispielweise ein Sänger jahrelang bei jeder Einatmung die Schulter hochgezogen hat und merkt über Zeit, welche Nachteile das für ihn mit sich bringt (Zwerchfellhochstand, schnellere Ermüdung der Stimme, Rigidität im Beckenboden, Verlust des Grundtons, bzw. Verlust von „Wärme“ in der Klangfarbe, Flexibilitätsverlust bei der Koloratura und vieles mehr), fängt dieser Sänger an, etwas Neues zu suchen. Innerhalb kurzer Zeit merkt dieser Sänger, dass es sich unnatürlich anfühlt, die Schulter ruhig und flexibel zu lassen. Der Sänger fühlt sich (zunächst) unsicher und verwirrt. Wenn er aber diese Verwirrung als zu unangenehm erlebt, geht er zurück zu der schlechten Gewohnheit! Das heißt, wenn er ernsthaft eine neue Möglichkeit als Gewohnheit entwickeln will, muss er auch eine „Toleranz für Ambiguität“, für Unsicherheit und für Verwirrung entwickeln. Die gute Nachricht ist, je mehr Toleranz für Verwirrung er entwickelt, desto besser und schneller ist er in der Lage, alte Gewohnheiten zu ändern! Und das ist WIRKLICH die gute Nachricht, denn Sänger entwickeln sich ständig. Sänger wachsen ständig.
Der kluge Leser wird sicher schon dahinter gekommen sein, dass „Sänger“ in diesem Sinne eine Metapher für „Mensch“ ist. Alles was ich oben über Sänger gesagt habe, gilt in gleichem Maße für Menschen in ihrem Alltag.
Wie Einstein es gesagt hat: das Gleiche immer und immer wieder zu machen und zu erwarten, dass ein neues Resultat entsteht, ist Irrsinn. Das heißt, egal ob klein oder groß, wichtig oder weniger wichtig, um dem Irrsinn laut Einsteins entgegen zu wirken, brauchen wir eine immer stärker Toleranz für Neuland, für das Ungewohnte, für Ambiguität.
Theoretisch, als eine Idee, mag das für viele logisch oder sogar einfach klingen. ABER wenn man mittendrin steht und alle Zylinder auf 100 feuern, ist es bekanntlich sehr schwer nicht gewohnheitsmäßige Reaktionen hervorzurufen. Es braucht sehr viel Übung, in einer solchen Situation souverän und flexibel zu bleiben. So funktioniert unser Gehirn; das meiste, was sich wirklich zu tun lohnt, läuft quasi automatisch ab, laufen, atmen, schlafen, schlucken, Herzschlag, Sex, Verdauung, uvm. Deswegen ist es so herausfordernd, etwas Neues auf Autopilot zu bringen. Das Geheimnis ist, wie gesagt, Übung. Mit anderen Worten: wir müssen etwas Neues bewusst wiederholen, bevor es unbewusst in einen Autopilot übergeht.
Für Lehrer, Trainer, und Coaches bedeutet das, dass wir ein Fingerspitzengefühl für Verwirrungstoleranz entwickeln. Zu viel Desorientierung ist genauso hemmend wie zu wenig. Ein anderes Wort für zu viel Verwirrung ist „Trauma“! Verwirrung in einer Gesangsstunde verlangt gutes Timing. Wenn man, zum Beispiel, eine sehr kognitiv-gesteuerte, links-hirn-dominierte Studentin hat, die versucht ALLES zu rationalisieren und dabei die ‚instinkt-mässige’ Integration hemmt, ist passende Verwirrung unabdingbar!
Ich geb euch ein Beispiel. Ich hab eine sehr talentierte, super intelligente Jazzsängerin als Studentin, so um die 50. Sie hat, quasi nebenbei, ein oder zwei Doktortitel in anderen Bereichen. Das heißt, sie ist kognitiv SEHR gut unterwegs und kann Dinge mit hervorragender Präzision wahrnehmen und analysieren. Es heißt auch, eine gewisser hartnäckiger Steuerungswunsch (oder anderes gesagt: „Kontrolle“) ist mit dabei. Wenn dieser Steuerungswunsch zu stark wird, verliert sie körperliche Flexibilität, Musikalität, emotionalen Ausdruck und das Gefühl für die rhythmische Phrase. Das weiß sie auch. Und das hilft auch nicht! In diesem Fall ist “Wissen” der Trostpreis! Das was sie will ist jenseits von “Wissen” und “Kontrolle”. Für unsere Gesangsstunde bedeutet es, dass irgendwo zwischen der 20-sten und 40-sten Minute eine sehr strukturierte und sehr präzise Verwirrung unbedingt notwendig ist… nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig. Nur genug, um sie in ihren eigenen „Flow“-Zustand zu bringen und weg von Ratio-gesteuerten Bewegungen. Es funktioniert immer.
Die offensichtliche Art, Verwirrung bei Integration anzusprechen, hat mit Körperbalance zu tun. Ich hab diese Studentin gebeten, die Übung zweimal zu singen. Das erste Mal wie gehabt und das zweite Mal, indem sie ihre linke Wade mit dem rechten Fuß zunächst vorne und dann hinten berührt, immer hin und her. Automatisch werden Spannungsketten von Knöchel, Knie, Hüftgelenk, Bauchmuskulatur und Zwerchfell optimiert. Zusätzliche Haltungsgewohnheiten werden aufgehoben und ein lebendigerer Klang entsteht. Dazu kommt, dass Balance-Übungen die Beziehung zwischen Mittelohr und Innenohr neu orientieren, was das Zuhören begünstigt. Es ist auch ein „Pattern Interrupt“, eine Musterunterbrechung für gewohnheitsmäßige Fokusstarre.
Eine zweite sehr kreative Verwirrungsstrategie ist, während die Studentin singt, etwas Spezifisches zu fragen. Während die Studentin eine Übung singt frage ich sie, zum Beispiel, nach einer Rechenaufgabe: ‚was ist 17 plus 5?‘, ‚was ist 15 mal 4?‘, ‚welcher Monat liegt vier Monate vor dem Mai?‘ Das stimuliert neue neuronale Netzwerke beim Singen und lenkt, besonders bei sehr klugen Sängern, den ‚Ratio‘-Fokus auf andere Bereiche, so, dass die Stimmfunktionen weniger bewusst kontrolliert werden.
Ein letztes Beispiel für Verwirrungsübungen: ich bitte die Studentin mit ihrer Nase langsam auf eine liegende Acht in die Luft zu malen und gleichzeitig beide Hände auf zwei verschiedenen Achsen kreisen zu lassen. Das bringt mehr Flexibilität im kompletten Schulter- Nackenbereich und zeigt sofort und deutlich genau wo gehalten wird. Natürlich ist es auch eine sehr starke Musterunterbrechung und die Studentin fühlt sich zunächst unangenehm verwirrt. Mit zunehmender Wiederholung kommt sie aber mehr und mehr zu ihrer Stimmbalance.
So wichtig es ist, Verwirrung zuzulassen, so wichtig ist es, am Ende der Stunde, Ordnung, Regelung und Orientierung auf einer neuen Ebene zu Integrieren. Wir wollen nicht, dass unsere Studenten verwirrt aus dem Studio rausgehen. Integration bedeutet, dass das, was wir in der Gesangsstunde machen, wiederholbar ist wenn der Student alleine übt. Das bedeutet am Ende der Gesangsstunde Wiederholung, Neu-Orientierung und Integration.
Wir hören oft von „Multi-Tasking“, der Fähigkeit, verschiedene Dinge gleichzeitig und souverän zu tun. Meistens, wenn man darüber spricht, spricht man von bewusstem Multi-Tasking. Die Wahrheit ist, unser Gehirn, auf der vorbewussten und unbewussten Ebene, betreibt ständig Multi-Tasking ! Herzschlag, Atmung, Körperbalance, Hormonausschüttung, Verdauung, Sehen, Hören, Riechen, Schmecken…wenn man überlegt, was alles im Körper geregelt werden muss und zwar ständig, kann man nur froh sein, dass das alles nicht bewusst gesteuert werden muss!! Wie oben erwähnt, gutes Singen und gutes Sprechen gehören dazu. Verwirrung ist in diesem Sinne, die Vorstufe einer sehr körperlichen Erhöhung der Multi-Tasking-Fähigkeit.
Ein weiterer wichtiger Punkt im Zusammenhang mit Verwirrung ist die Unterscheidung zwischen „guter“ Verwirrung und „schlechter“ Verwirrung. Ähnlich wie beim Sport, wo eine gewisse Toleranz für „Schmerz“ positiv ist (im Sinne des englischen „No Pain, No Gain“), brauchen wir sehr bewusste Kriterien für Verwirrung, die nicht gut tut und Verwirrung, die Wachstum fördert! In „Social Media Groups“, Blogs, Wikis, usw. gibt es in der letzten Zeit einen Trend, Studenten zu suggerieren, dass JEDE Verwirrung oder jede neue, „unangenehme“ Empfindung im Gesangsunterricht ein Grund dafür ist, den Lehrer sofort zu verlassen. Deswegen erwähne ich das als letzten wichtigen Punkt. Nicht aller Schmerz im Sport und nicht alle Verwirrung im Gesangsunterricht ist gleich. Wie können wir als Lehrer oder Coaches ein Feingefühl in unseren Studenten erwecken, diese wichtige Unterscheidung treffen zu können? Da gibt es sicher so viele Antworten auf diese Frage als es Gesangslehrer gibt und das ist auch richtig so. Was sie meiner Meinung nach gemeinsam haben, ist ein inhärentes Gefühl für Potential im Studenten und eine spielerische, musische Art, Integration und Selbstwahrnehmung zu fördern.
Menschen sind verschieden. Sänger sind verschieden. Wir alle haben verschiedene Werte in Bezug auf Verwirrung. Das ist so über die Zeit und es ist auch so von einem Kontext zum anderen. Eine neue Stufe der Kompetenz zu erreichen, eine neue Stufe der „Erleuchtung“ zu erleben, bedeutet immer, etwas Neues zu probieren, zuerst einmal unsicher zu sein und dann eine Orientierung im Neuen auch als einen Wert zu etablieren. Wie genau wir diese Werte an unseren Studenten wahrnehmen, begleiten und fördern, ist die Definition unserer Effektivität als Lehrer.
Evan Bortnick Wiesbaden